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Vorgeschichte: polnische Adelsherrschaft in Galizien und Wolhynien

Nach den drei Teilungen Polens (1772, 1793 und 1795), das bis zum Jahre 1772 im Osten fast bis nach Kiev gereicht hatte, verlor das Land seine staatliche Existenz. Eine „Ukraine“ im Sinne von Eigenstaatlichkeit hatte zu dieser Zeit schon lange nicht mehr bestanden. Das Königreich/ Fürstentum Halytsch-Wolhynien gehörte seit dem 14. Jahrhundert zu Polen bzw. zu Litauen und war im Rahmen der Lubliner Union von 1569 ein Teil des Königreichs Polen-Litauen (Rzeczpospolita) geworden. Die östlichen Fürstentümer auf dem Gebiet der heutigen Ukraine waren den mongolischen Khanaten tributpflichtig und schlossen sich im 17. Jahrhundert Russland an.



Der im Projektraum liegende Teil der Rzeczpospolita wurde im 18. Jahrhundert geteilt in das (neu gegründete) „Königreich Galizien und Lodomerien“, das nunmehr österreichisches Kronland wurde und dessen Ostgrenze bei der heute ukrainischen Stadt Brody lag. Der östliche Teil des ehemaligen Königreiches Polen-Litauen wurde in das russische Zarenreich eingegliedert.







Da wir im vorliegenden Material eine zeitliche und keine geographische Abfolge darstellen, möchten wir eingangs kurz skizzieren, dass sich aus geographischer Sicht die Spuren der Erinnerung in meist großer räumlicher Dichte zeitlich überlagern. Dies soll am Beispiel der ukrainischen Kreisstadt Brody angedeutet werden:

Mit der Ersten Teilung Polens 1772 wurde das Land zerrissen. Eine bisher funktionierende Infrastruktur wurde zerstört. Brody wurde Grenzstadt zwischen Österreich und Russland. Diese Lage führte zu einem schweren Einbruch des Handels, woraufhin Kaiser Joseph II. Brody 1779 mit Freihandelsprivilegien ausstattete. Dieser im Festlandshandel seltene Status beinhaltete, dass Brody zolltechnisch dem Ausland gleichgestellt war: Der Handel mit Rest-Polen und Russland konnte zollfrei abgewickelt werden; im Handel mit habsburgischen Ländern mussten hingegen Zölle nach allgemeinem Tarif entrichtet werden.

Die von Wien gewünschte Belebung des Außenhandels wurde im Großen und Ganzen zunächst erreicht: Brody wurde zum wichtigsten Warenaustauschzentrum an der österreichischen Ostgrenze. Auf längere Sicht schwankte das Niveau des Handels allerdings erheblich. 1879 wurden die Privilegien beseitigt. Ab da beschleunigte sich der bereits andauernde Niedergang: "Verfallen wie in Brody" wurde in den 1880er Jahren in Galizien zur geläufigen Paraphrase einer Situation des Verschlagenseins an einen trostlosen Ort. Die Kaufmannskontore schlossen und die Bevölkerungszahl fiel von 1826 bis 1921 um 7 000 Einwohner auf knapp 11 000. Brody verkam zum Schmuggler- und Ganovenstädtchen am Rande des „alten Europa“.

In den Kriegen und Krisen des 20. Jahrhunderts sollten Brody und sein Umland jedoch erneut zu Schauplätzen europäischer Geschichte werden. Im Ersten Weltkrieg, im polnisch-bolschewistischen Krieg und im Zweiten Weltkrieg wurden hier insgesamt vier Schlachten von entscheidender Bedeutung für den jeweiligen Kriegsverlauf geschlagen.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde Brody wieder Grenzstadt. Diesmal zwischen dem Generalgouvernement und dem Reichskommissariat Ukraine.

Und auch darin kommt die herausragende Bedeutung der Stadt als „Erinnerungsort“ in Europa zum Ausdruck: Brody hatte – selbst für galizische Verhältnisse – eine überdurchschnittlich zahlreiche jüdische Bevölkerung. Die Spuren der jüdischen Gemeinde reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Von 1753 bis 1756 kam in Brody der Vier-Länder-Waad zusammen, der Gerichts- und Verwaltungsrat der Juden aus Groß- und Kleinpolen, Litauen und Russland. Viele namhafte Persönlichkeiten sind in dieser Stadt geboren, der bekannteste ist vielleicht der Schriftsteller Joseph Roth, der mit seinem literarischen Werk auch dem jüdischen Galizien, dem Zentrum Lemberg und seiner Geburtsstadt Brody Denkmale gesetzt hat.

Einen traditionellen Platz hatte Brody aber auch in der Leidensgeschichte der osteuropäischen Juden: Als Grenzstadt fungierte es bereits im 19. Jahrhundert als Auffangbecken für Pogromflüchtlinge aus Russland. 1939 lebten in Brody noch zehntausend Juden, im Januar 1942 waren sechseinhalb Tausend übrig, die nun ghettoisiert wurden. Wenige Monate später begannen die Deportationen nach Bełżec und Majdanek, bis im Mai 1943 Ghetto und Arbeitslager liquidiert wurden. Heute existiert in Brody keine Jüdische Gemeinde mehr.

Alle diese Ereignisse haben in Brody ihre Narben und Gedächtnisorte hinterlassen. In der Stadt selbst wird vor allem an die Zeit als österreichische Grenzstadt erinnert. Hier werden heute historische Ansichtspostkarten mit Darstellungen der alten österreichischen Grenzstation verkauft. An deren Stelle befindet sich jetzt eine Wache der Autobahnpolizei. In einer Gemeinschaftsinitiative der Städte Brody und Radyviliv, der damaligen Grenzstadt auf russischer Seite, soll die historische Grenzstation als Touristenattraktion wieder errichtet werden.



Und auf einen anderen Aspekt möchten wir eingangs noch hinweisen: Die Wurzeln von Konflikten liegen oft in einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Während sich Polen bei seiner Wiedergeburt nach dem Ersten Weltkrieg auf eine reiche und über Jahrhunderte hin mächtige Vergangenheit berufen konnte, empfand das erwachende Nationalbewusstsein der Ukrainer eben diese Vergangenheit als Geschichte der Unterdrückung ihres Volkes durch den polnischen Staat, was für die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentliche Bedeutung erlangte. In der Blütezeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik waren etwa zwei Drittel des galizischen Bodens Eigentum polnischer Magnatenfamilien. Diese waren etwa ein Dutzend der wohlhabendsten und leistungsfähigsten polnischen Adelsgeschlechter. (Der Besitz des Fürsten Karol Radziwill umfaßte ungefähr 27.000 km² - fast die Größe von Belgien. 1763 besaß er 16 Städte und 583 Dörfer. In der Ukraine besaß ein Mitglied der Familie Potocki 20.000 km² Land). Der polnische Adel genoss in dieser Zeit alle Rechte, die den anderen Schichten versagt waren: fast völlige Steuerfreiheit, das Privileg der Königswahl und der Rechtssicherheit.

Im habsburgischen Galizien waren nach den Teilungen Polens die politisch führenden Gruppen die deutsch-österreichische Bürokratie und die Armee, doch blieb der polnische Gutsadel die sozial und kulturell dominante Schicht, Juden spielten als Händler, Handwerker und Schankwirte ihre traditionelle Mittlerrolle. Die Ukrainer, die von den Behörden „Ruthenen“ genannt wurden, waren nur auf dem Lande in der Mehrheit.

Während im Osten Polens zahlreiche Adelsschlösser aus der Zeit der Rzeczpospolita in den letzten Jahren saniert wurden und heute meist öffentlich genutzt werden, haben diese Bauwerke in der Westukraine oft erhebliche Kriegsschäden erlitten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden das Inventar zerstreut und die Gebäude anderweitig genutzt (z.B. als Kinderheime, Sanatorien oder Kliniken). Dabei erlitt die Bausubstanz häufig weitere Schäden. Die unabhängige Ukraine betrachtet diese ehemaligen Schlösser als einen wesentlichen Teil ihres kulturellen Erbes. Meist aber fehlt in den öffentlichen Kassen das Geld, um ehrgeizige Projekte in überschaubaren Zeiträumen zu verwirklichen. Privatisierungen polnischer Adelsschlösser sind uns in der Westukraine nicht bekannt. Hier einige Beispiele:

Das Schloss von Łańcut (PL, Woiwodschaft Podkarpackie) ist eines der schönsten Residenzschlösser in Polen. Der letzte Majoratsherr war seit 1915 Alfred III. Potocki. Er floh 1944 wenige Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee in die Schweiz, wo er 1958 starb. Wenn auch eine Reihe von Nachkriegsverlusten am Inventar zu beklagen ist, wurde das Schloss bereits 1944 als Museum eröffnet und hat seither einen herausragenden Platz in der polnischen Museumslandschaft.



Das Lubomirski-Schloss in Rzeszów (PL, Woiwodschaft Podkarpackie) wurde in den letzten Jahren saniert und dient heute als Gerichtsgebäude.



In Przemyśl (PL, Woiwodschaft Podkarpackie) sind im Schloss, das sich ebenfalls im Besitz der Dynastie der Fürsten Lubomirski befand, die Volkshochschule, eine Bibliothek und mehrere Kultureinrichtungen untergebracht.



Das Schloss in Mostiska (UA, Lvivsker Oblast) gehörte der polnischen Adelsfamilie Rudniki. Eine Lithographie stellt das Bauwerk im Jahre 1825 dar. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde hier eine Schule eingerichtet. Die Schulleitungen waren stets bemüht, die historische Bausubstanz so weit als möglich zu schützen und zu erhalten. Die Räume können auf Anfrage besichtigt werden.



Der Potocki-Palast in Lviv (UA, Lvivsker Oblast) ist heute eine der Residenzen des ukrainischen Präsidenten.
(Foto: Wikipedia)



Das Schloss in Olesko wurde von 1961 – 1985 restauriert und als Museum eingerichtet. Es gilt als eine der reichsten Schatzkammern polnischer Kunst außerhalb der Grenzen Polens.
(Foto: Wikipedia)



Das Schloss Pidhirtsi (UA, Lvivsker Oblast) ist ein Teil des „Goldenen Hufeisens“, einem Ring von Burgen an der Grenze zwischen Wolhynien und Galizien: Pidhirtsi, Olesko und Zolochiv. Der berühmte polnische Historienmaler Jan Matejko hat es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt. Während des Ersten Weltkrieges war das Schloss zeitweilig der Sitz des V. Korpskommandos des deutschen Heeres und wurde u.a. vom deutschen Kaiser Wilhelm II. besucht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Anlage bis 1992 als Sanatorium genutzt. Sie steht heute leer, wird schrittweise rekonstruiert und ist in seiner baulichen Schönheit eine viel besuchte touristische Attraktion.
(Foto der Außenansicht Vasyl Strilchuk)



Das Schloss in Brody (UA, Lvivsker Oblast) wurde zwischen 1630 und 1635 errichtet. Seit 1704 befand es sich im Besitz der Familie Potocki. Heute sind Teile der ehemaligen Festungsanlage und der Potocki-Palast aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden die Gebäude von der Sowjetarmee als Kaserne genutzt. Derzeit ist hier eine städtische Galerie untergebracht. Es besteht dringender Sanierungsbedarf.



Seit 1753 war das Schloss in Dubno im Besitz der polnischen Magnaten-Dynastie Lubomirski. 1780 wurde der Bau modernisiert. Nach den Teilungen Polens gehörte Dubno zu Russland und die Herrschaft Dubno verlor die überregionale Bedeutung, die sie zur Zeit der Rzeczpospolita inne gehabt hatte. Im 20 Jahrhundert gehörten Schloss und Stadt zu sehr verschiedenen Mächten und wurden nacheinander von der Zarenarmee, den österreich-ungarischen, polnischen, deutschen und sowjetischen Truppen besetzt. Das Schloss wurde Jahrzehnte lang als Gefängnis genutzt. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine wird es schrittweise saniert und als Museum, Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Messezentrum ausgebaut.



Ein besonders ehrgeiziges Projekt ist der Wiederaufbau des Rivnens'ker Schlosses, das künftig touristischen Zwecken dienen und u.a. ein Hotel beherbergen soll. Das Bauwerk war ein Herrensitz der Fürsten Lubomirski, der damaligen Besitzer von Rivne und seiner Umgebung. Das Schloss wurde am Ende des 19. Jahrhunderts verlassen und dem Verfall preisgegeben. Die Reste wurden in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts endgültig beseitigt. Gegenwärtig ist es nur als Modell im Kulturhistorischen Museum des Rivnensker Gebietes zu besichtigen. Der Wiederaufbau hat noch nicht begonnen.